Wie Phoenix aus der Asche

Die Union Sozialer Einrichtungen in Berlin hat zum dritten Mal zu einem Literaturwettbewerb aufgerufen. Er zeigt, wie junge Leute schreibend Krisen und Krankheiten bewältigen.

Von Beatrix Fricke

Torben arbeitete in diesem Sommer an der Nordsee. Der junge Mann, Anfang 20, mit kurz geschorenen Haaren, half im Reitstall. Er mistete die Boxen aus, fütterte die Ponys und assistierte beim Reitunterricht für die Ferienkinder. Die mochten ihn sehr, vielleicht, weil er mehr sah als andere. Er war immer genau da, wo er gebraucht wurde, ohne dass man ihn rufen musste, und half in einer angenehm zurückhaltenden Art. Eines Tages hatte Torben Geburtstag. Die Reitschüler hatten eine Girlande aufgehängt, Kuchen gebacken und sangen ein Geburtstagslied. Was man eben so macht, wenn jemand Geburtstag hat. Doch Torben wirkte erstaunt. Konnte es wirklich sein, dass man ihn mochte, schienen seine hellen blauen Augen zu fragen. Dass er hier einen Ort gefunden hatte, wo man sich für ihn interessierte und er gut ankam? Dass es eine Perspektive für ihn gab?
Für Torben, so konnte man erfahren, ist das nicht selbstverständlich. Über viele Jahre fühlte er sich als Außenseiter, wurde darüber krank. Die Arbeit im Reitstall war sein Weg zurück ins Leben. Doch nicht sein einziger.

In seiner Stimme lag SehnsuchtAm letzten Urlaubstag erzählte Torben mit gedämpfter Stimme von einem Literaturwettbewerb in Berlin. An dem habe er teilgenommen und dafür seine Lebensgeschichte aufgeschrieben. Im Oktober sei die Preisverleihung und er hoffe sehr, dass man sich dort wiedersehe. In seiner Stimme lag so viel Hoffnung und so viel Sehnsucht, dass die Sätze direkt ins Herz trafen. Und sie machten neugierig. In Berlin, das weiß der Berliner, gibt es täglich Hunderte von Veranstaltungen und Wettbewerbe, auch für Literatur. Die Chance, irgendwo groß rauszukommen, ist ziemlich gering. Was war das für ein Wettbewerb, in den Torben so große Hoffnung setzte, als hinge sein weiteres Leben davon ab? Warum war dieser Wettbewerb für ihn so wichtig?

Freitag Abend, Oranienstraße, Berlin-Kreuzberg. Aus dem Hinterhaus der ehemaligen Blindenanstalt erklingt Musik. Wer die abgetretenen Treppenstufen in den zweiten Stock erklimmt, erblickt festliche, weiß eingedeckte Stehtische. Ein Büffet ist aufgebaut, Krüge mit Orangensaft stehen bereit. Es ist der Ort der Preisverleihung des Literaturwettbewerbs der Union Sozialer Einrichtungen, USE gGmbH, einem sozialen Träger, der sich der Ausbildung und beruflichen Rehabilitation von Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder Behinderung verschrieben hat. Zum dritten Mal hatte die USE den Wettbewerb in diesem Jahr ausgeschrieben, der unter der Schirmherrschaft des Liedermachers Konstantin Wecker steht. Das Thema „Wie Phoenix aus der Asche?“ lud ein, über Krisen und Verluste und deren Bewältigung zu reflektieren. Knapp 300 Menschen aus ganz Deutschland und Europa hatten ihre Texte eingeschickt. An diesem Abend werden die drei Preisträger gekürt.

Irgendwo in einer grauen Stadt
Christina Meyer, 26, ist zeitig erschienen. Sie ist aus Nürnberg angereist und wird als zweite Gewinnerin platziert werden. „Aufstand“ lautet der Titel ihres achtseitigen Werks. Sie schreibt darin über Sabine, Ehefrau von Sven und Mutter von zwei Töchtern, wohnhaft irgendwo in Deutschland in einer grauen Stadt. In der Geschichte fährt Sabine ins Pflegeheim, um ihren demenzkranken Vater zu besuchen, so, wie sie es jeden zweiten Sonntag tut.
Ein Auszug:
(…) Sabine achtet darauf, dass ihrem Vater regelmäßig die Haare geschnitten werden, dass er rasiert wird und saubere Fingernägel besitzt. Kleidung war ihm noch nie wichtig gewesen, Sabine auch nicht. „Ist Renate auch hier?“, fragt er hastig. Renate war Sabines Mutter und seit zehn Jahren tot. „Nein, Mutter ist nicht hier. Sie ist tot. Schon lange. Erzähl mir mal: Was hast du gemacht die letzten Tage?“ Stille. Sabines Vater sieht abwesend aus dem Fenster, die Augen hinter zu großen Brillengläsern versteckt. Während sie den Kuchen aus der Folie packt, entgegnet sie ihm: „Ich soll dir liebe Grüße von den Mädchen sagen. Schau, was sie gemalt haben!“

Sabine greift nach den Papierrollen und löst vorsichtig das Gummiband, um sie ihrem Vater zeigen zu können. Langsam dreht er sich ihr wieder zu und blickt auf die Zeichnungen. „Wer ist das? Ich und Renate? Und die beiden anderen?“, fragt er mit gerunzelter Stirn in Erwartung auf eine Antwort. „Nein, das sind Sven, Lea, Marie und ich vor unserer Wohnung. Marie hat das im Kindergarten gemalt. Sie kann das gut, es macht ihr Spaß.“ Er starrt auf die Zeichnung, auf jeden Strich. Noch tiefer wirken die Falten entlang seiner Wangen, die Mundwinkel hängen schlaff nach unten. Dann schüttelt er heftig den Kopf und fährt mit lauter Stimme auf: „Du solltest dich mehr anstrengen, man kann die Gesichter nicht richtig erkennen. Du musst dich konzentrieren, anstrengen, sonst wird nichts aus dir. Was soll aus dir werden? Deine Mutter und ich haben sowieso schon alle Mühe mit dir. In der Küche solltest du helfen, was auf den Teller schaffen, das Haus sauber halten. Aber du, du kannst ja nichts außer kritzeln und unnütz sein“, faucht der Alte kopfschüttelnd. „Das treib ich dir schon aus, du.“

Sabine stutzt, schluckt den Kloß in ihrem Hals nach unten. Es ist nicht das erste Mal, dass sie ihren Vater so sprechen hört. Vor zwanzig Jahren fing es an, als sie noch ein kleines Mädchen war. Die Beleidigungen, das Gebrüll ertrug sie und weinte nur, wenn sie alleine in ihrem Zimmer war, denn jede Träne vor ihrem Vater kostete sie weitere Demütigungen und Anfeindungen. Sie konnte es ihm nicht recht machen. Mit ihrer zierlichen Figur und den widerspenstigen Haaren, der dicken Brille und den verschlissenen Klamotten erfüllte sie weder seine Vorstellung von einer angehenden guten Hausfrau, die einen wohlhabenden Mann umsorgte und auf edlen Empfängen und Geschäftsessen begleitete, noch hatte sie das Glück, als heiß ersehnter Sohn das Licht der Welt zu erblicken. Und so enttäuschte sie – ohne jemals wirklich Schuld daran zu tragen – die Wünsche und Erwartungen ihres Vaters tagtäglich von Neuem. Enttäuschung war das einzige, was sie miteinander verband. (…)

Einen Platz im Leben zurückerobern
Die Erwartungen von anderen Menschen nicht erfüllen, auch die eigenen an sich selbst nicht: Solche Situationen und die Gefühle, die das vermeintliche Versagen auslöst, kennen alle Menschen, die an dem Literaturwettbewerb der USE teilgenommen haben. Viele von ihnen haben persönliche oder familiäre Krisen hinter sich, einige leiden an schweren psychischen Erkrankungen wie Borderline oder Depressionen. Sie kennen die Sucht nach Drogen oder Alkohol, nach Essen oder Hunger, sie haben familiäre Gewalt oder Vernachlässigung erlebt und sind durch ihre Krisen und Krankheiten nicht selten in Arbeitslosigkeit und existenzielle Not gestürzt. Aber, auch das ist allen Teilnehmern gemeinsam: Sie sind wie Phoenix auferstanden und haben sich einen Platz im Leben zurückerobert. Davon zeugen ihre Beiträge für den Wettbewerb.

„Jeder, der hier mitmacht, hat etwas Fundamentales auf dem Herzen“, sagt Frank Nussbücker, freier Autor und Mitorganisator. „Bei keinem einzigen Beitrag habe ich mich gefragt, warum er wohl geschrieben worden ist.“ Andreas Sperlich, Geschäftsführer der USE, streicht die „einmalige Gelegenheit“ heraus, „dass Menschen mit psychischen Problemen eine Plattform erhalten“. Die Anonymität des Schreibens erlaube ihnen, sich auszudrücken und damit vielleicht auch ein Stück weit aus ihrer Krise herauszukommen. Zugleich eröffneten die Texte Nichtbetroffenen wertvolle Einblicke. „Es gibt wenig Empathie und Wissen im Umgang mit psychisch Kranken, aber leider viel Unsicherheit.“

Wichtig ist den Veranstaltern aber auch, dass der Wettbewerb einen literarischen Anspruch erfüllt. Dafür wurde die Jury, die ehrenamtlich arbeitet, mit den Schriftstellern Bärbel Klässner, Barbara Herrmann und Jordan T.A. Wegberg besetzt. Diese Messlatte hat eine Funktion, wie Wettbewerbsinitiator und Diplom-Psychologe Dietmar Klocke von der USE erläutert: „Reine Krankheitsgeschichten lösen Betroffenheit und Mitleid aus, aber sie hinterlassen das Gegenüber mit einem Gefühl der Hilflosigkeit, weil es nicht wirklich etwas tun kann.“ Wenn die Geschichten jedoch literarisch chiffriert seien, bekomme der Zuhörer einen anderen Zugang. Außerdem sei das Autoren- und Leserinteresse viel mehr in Balance.

Eine Begegnung auf Augenhöhe
Der Wettbewerb – eine Begegnung auf Augenhöhe. Sie schließt auch die ein, die keinen Preis gewonnen haben. Alle teilnehmenden Autoren sind zur Abschlussveranstaltung eingeladen, auch Claudia Behrndt, 42, und Wolfgang Weber, 61, beide aus Berlin.

Claudia Behrndt ist Wertschätzung und Aufmerksamkeit nicht gewohnt, das merkt man gleich. Nervös streicht sie ihren blauen Pullover glatt und fährt sich fahrig durch den Pony. Die Mutter von zwei Kindern ist in einer Pflegefamilie groß geworden und hat mehrere Klinikaufenthalte hinter sich. Vor allem aber schreibt Claudia leidenschaftlich gern Gedichte. Einige davon hat sie bei der Jury eingereicht.

Mit dem Dichten hat Claudia mit 25 Jahren angefangen. Ihr literarisches Vorbild ist Heinrich Heine. „Ich schreibe vor allem, wenn ich traurig bin“, erzählt sie. „Dann schreibe ich Sätze auf, die mich bewegen, und versuche, etwas zu finden, das sich darauf reimt.“ Ihr Leben als Borderlinerin, ihre Selbstmordversuche, ihre Essstörungen, der Tod ihrer krebskranken Mutter: Alles, was sie belastet, versucht Claudia reimend zu ordnen und auf diese Weise in den Griff zu bekommen. Außerdem will sie Menschen erreichen, die Ähnliches erlebt haben wie sie selbst. Daher spricht sie offen und hat ihre Gedichte im Selbstverlag veröffentlicht, mit Kommentaren zu ihrer persönlichen Situation.

Mut und Zuversicht
„Lügen über Lügen“, „Einmal Himmel und zurück“ und „Blick aus dem Abgrund“ lauten die Titel ihrer eher düsteren Gedichte; „Die Wellen des Lebens“ ist dagegen eines, das von Mut und Zuversicht erzählt:
Auf den Wellen des Lebens / warte ich ganz unten vergebens / auf eine Hand, die mir winkt / die mich bewahrt, dass ich nicht ertrink‘.
Denn allein muss ich mich nach oben ziehen / darf vor mir selbst nicht fliehen. / Langsam ziehe ich mich nach oben / werde mich für jeden Schritt auch loben.
Auf den Wellen des Lebens / ist meine Mühe niemals vergebens. / Denn was ich tu, das ist für mich allein / Und auch ich kann es schaffen, ganz oben zu sein.
Schon länger, so erzählt Claudia, habe sie nun nicht mehr gedichtet, und lächelt fast erleichtert. Ihre Traurigkeit und der Druck, den sie über Jahrzehnte verspürte, scheinen sich schreibend verflüchtigt zu haben. „Schreiben kann eine heilsame Wirkung haben“, bestätigt die Schreibpädagogin Kirsten Alers (siehe Interview). „Man kann das Namenlose benennen, und indem man es in poetisch aufbereitet, kann man sich davon distanzieren und es eventuell auch loslassen.“

Eine Stimme findet Gehör
Wolfgang Weber hat das Schreiben sogar zu einem neuen Selbstgefühl verholfen. Der 61-Jährige weiß noch auf den Tag genau, wann seine Karriere als Autor anfing. Es war der 30. Juni 2008 – der Tag, an dem er eine E-Mail abschickte, um am ersten Literaturwettbewerb der USE teilzunehmen. „Das war der Katalysator für mein Schreiben“, sagt er.

Eigentlich hatte Wolfgang Weber Lehrer für Erdkunde und Englisch werden wollen, doch dieser Wunsch zerschlug sich schon während des Studiums. Heute arbeitet er bei einem sozialen Träger in der Verwaltung. Und er schreibt – vor allem über Musik, sein größtes Hobby. Auch bei Webers aktuellem Beitrag geht es um Musik. Er handelt von einem DJ namens Phoenix, der mit Gleichgesinnten die Schallplatte wieder auferstehen lässt. Der Tagtraum, den Weber schildert, hat eine über das Sujet hinaus gehende Botschaft. „Alles, was gut ist, kehrt irgendwann wieder zurück“, schreibt Weber.

Die Idee zu dem Text kam dem Hobby-Autor beim Besuch der Ausstellung „Mythos Vinyl“ des Museums Neukölln im Gutshof Britz. Gewonnen hat er beim diesjährigen Wettbewerb genauso wie Claudia Behrndt zwar nicht. Dennoch bringt ihm das Schreiben viel, vor allem Selbstbewusstsein. Seit drei Jahren trägt Wolfgang Weber seine Texte auf offenen Lesebühnen vor, etwa in Marzahn auf der Bühne „Textbar“ oder beim „Freihafen“ in der Z-Bar in Mitte. „Ich bin redegewandter geworden, spreche langsamer, und die Aufregung hat sich gelegt.“

„Ich habe es überstanden“
Im Hinterhof in der Oranienstraße ist es ruhig geworden. Carolina Neuy, die Preisträgerin des dritten Platzes, ist eingetroffen. Ihr Zug aus Köln hatte Verspätung, jetzt, mit ihr, kann die Feier endlich beginnen. Jürgen Schneider, Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung, spricht ein Grußwort. Anke Nussbücker, selbst Autorin und Mitorganisatorin des Wettbewerbs, liest Carolinas Text den etwa 60 Anwesenden vor.
Ein Auszug:
(…) Am Nachmittag darauf verprügelte er sie in der Küche, weil sie vergessen hatte, den Keller mit Folie auszulegen, und er am nächsten Tag schlachten wollte. Wie in Trance zog sie sich an der Anrichte hoch, als er davon gestürmt war, verharrte dann kurz, schwer atmend, und stakste ihm auf unsicheren Füßen in den Keller hinterher. Dort hockte Peter auf allen Vieren, fluchend und ohne sich ihrer Anwesenheit bewusst zu werden, während er die Plastikplanen auf dem Beton verteilte. Unter der blanken, von der Decke herabhängenden Glühbirne sah sein glänzend aus der Hose quellender Hintern selbst aus wie ein Stück eines Schweins, dachte sie zusammenhanglos.

Während sie ihn stumm beobachtete, fuhren ihre Finger wie automatisch wieder und wieder durch ihre Haarstoppeln, immer schneller, immer heftiger. Dann fiel ihr Blick auf das Bolzenschussgerät, das, neben säuberlich aufgereihten Messern und Ausbeinwerkzeug, friedlich auf einem Tapeziertisch lag. Ohne weitere Sekunden des Zögerns griff sie danach, trat zwei Schritte vor und setzte es ihm in den Stiernacken, genau zwischen zwei Speckfalten. (…)

Im Publikum ist es totenstill. „Krebs“ lautet der Titel von Carolina Neuys Geschichte, doch an was die namenlose Protagonistin tatsächlich leidet, ist ihr Mann Peter, der sie demütigt, schlägt und vergewaltigt. Als ihr die Haare ausfallen und eine Friseurin ihr einen Kahlkopf rasiert, nimmt das Missverständnis seinen Lauf: Ihr Umfeld glaubt, sie leide an Krebs, und bringt ihr erstmals Mitgefühl und Bestätigung entgegen. So willenlos, wie die Namenlose ist, klärt sie weder den Fehler auf noch hat sie die Kraft, etwas an ihrer Situation zu ändern. Bis zu dem Moment im Keller, in dem sie zum Bolzenschussgerät greift. „Ich habe es überstanden“, wird sie am nächsten Tag ihrer Kollegin doppeldeutig verkünden und von der Ahnungslosen herzlich umarmt werden.

Verstörend und aufwühlend
„Viele Texte, die eingereicht wurden, sind verstörend und aufwühlend“, kommentiert Jurymitglied Barbara Herrmann Carolinas Beitrag. „Aber dieser Text ist meine persönliche Nummer eins.“ Literatur sei mehr, als den persönlichen Krankheitsverlauf darzustellen. Hier sei das Thema der allgegenwärtigen Gewalt und Wehrlosigkeit drastisch und bewegend dargestellt bis hin zum plötzlichen Akt der Befreiung. „Der Leser wird zudem eingeladen, auch noch über die Zukunft zu spekulieren: Wird das Opfer es schaffen, eine neue liebevolle Beziehung einzugehen? Wie wird es mit einem schlechten Gewissen umgehen?“

Carolina Neuy strahlt, als ihr eine Urkunde und Blumen überreicht werden. „Ich finde es toll, dass meine Geschichte jemandem gefallen hat“, sagt sie. Die 28-Jährige, die Fantasy und Gruselgeschichten liebt und zu Hause eine selbst verfasste, 2000-seitige Fantasy-Trilogie in der Schublade hat, hat schon bei 30 Literaturwettbewerben mitgemacht, aber nun erstmals einen Preis gewonnen.

Am Alltag der arbeitslosen Biologin wird die Auszeichnung wohl nicht viel ändern. Wie immer seit Jahren wird Carolina Neuy auch in der nächsten Woche wieder für vier bis sechs Stunden in ihre Stammkneipe gehen und dort schreiben: „An diesem Platz bin ich abgelenkt und habe keine Kopfschmerzen. Da denke ich nicht dran, was sonst alles schief läuft, was oft genug passiert.“

Die Perspektive wechseln
Auch Christina Meyer aus Nürnberg, zweite Preisträgerin für den Beitrag „Aufstand“, wird nach ihrem Besuch in Berlin wieder in ihren Alltag zurückkehren und das Schreiben weiter als Hobby betreiben. „Ich finde es spannend, die Perspektive zu wechseln“, sagt die Kommunikationsfachfrau. So wie in ihrer Geschichte. Ganz anders als sie selbst hat sich ihre Protagonistin Sabine genügsam in einem monotonen Leben eingerichtet. Und doch: Der Leser entwickelt Respekt für die „graue Maus“. Er erfährt im Lauf der Geschichte, dass Sabine einen Umgang mit ihrem Schicksal gefunden hat, indem sie gelernt hat, für sich selbst einzustehen.

Die Preisträgerin des ersten Platzes, Julia Kersebaum, konnte zu dem Festakt nicht erscheinen. An ihrem Text mit dem Titel „Hinter hohen Mauern“ über einen Klinikaufenthalt lobte die Jury vor allem die lakonische Sprache und die radikale Subjektivität. Und Torben, der sympathische junge Mann aus Norddeutschland? Einen Preis erhalten hat er nicht, und nach Berlin konnte er auch nicht kommen. Die Zeit, das Geld, von allem gab es zu wenig, sagt er. Vielleicht war aber auch alles zu viel für ihn. Torben hofft, dass sein Text in der Anthologie erscheint, die die USE aus allen Beiträgen erstellt. Gewonnen hat er durch sein Schreiben in jedem Fall – an Perspektiven und an Mut, sein Leben eigenhändig und kreativ zu gestalten.

Mitarbeit: Fabienne Demeulenaere

Mit freundlicher Genehmigung von Frau Fricke

04.11.2014